Heute ist der grosse Tag. Die Fahrt zum Berg!
Um 5 Uhr ist der Himmel tatsächlich wolkenlos, im Osten ein heller Streifen am Horizont, der Mond eine Sichel und der Berg mit dem roten Licht auf dem Observatorium klar und schön. Um sieben Uhr hat er sich bereits den Hut übergezogen.
Es eilt jetzt mit dem im Garten liebevoll angerichteten Frühstück (bin allein). Den Lavendelhonig müsse ich unbedingt kosten, meint Catherine. Sie klagt dann über die vielen Schwierigkeiten eines abseits stehenden Hauses (Wasser, Strom, Tele) und den Problemen, Handwerker hierher zu bekommen. Frankreich verliere überdies allmählich seine Identität, das ganze Leben richte sich aus auf die USA und deren (schlechten) Lebensgewohnheiten. Die Gastgeber Mann, Frau und Kind begleiten mich zum Motorrad und warten geduldig, bis ich mich zur Abfahrt bereit gemacht habe. Der Hausmeister rät mir, gleich zum Berg zu fahren und erst nachher die Gorge zu befahren.
Wie es los geht, scheint die Sonne hell und warm. In Bédoin auftanken. Von hier zum Gipfel sind es 21 km oder 29′ mit dem Auto. Die Hälfte der Strecke führt bergauf. Bereits hier ziehen Heerscharen von Radfahrern einzeln oder in Gruppen vorüber. Alle drängt es nach oben. Später am Berg noch mehr Gruppen, diesmal LäuferInnen, die den Berg rennenderweise oder nur im Eilschritt erklimmen wollen. Die gelbweissen Strassenmarkierungen zeigen bis zu 10% Steigung an. Meine wackere Maschine spürt davon natürlich nichts.
Dort, wo die Strasse nicht so steil begangen geht, stehen da und dort Fotografen. Man kann sie Erinnerungsfotos für wenig Geld machen lassen.
Der Blick hinab ist überwältigend. Die Ebene im Süden liegt in der Sonne. Der Gipfel, ein Haufen aus beige gelblichem Gestein ohne Felsen, ohne Vegetation – man erahnt ihn nur – liegt im Nebel. Eine unwirkliche Atmosphäre umfängt einen hier. Das muss also le mystére sein. Die Sichtweite beträgt kaum 50 m. Es windet stark und ist kalt. Die mit den Bussen und Autos hergekommenen BesucherInnen stehen herum, unterhalten sich mit gedämpften Stimmen, wissen nicht so recht was tun. Die Radfahrer selbst wirken erstaunlich frisch. Sie gratulieren sich gegenseitig und tauschen ihre Erlebnisse aus. Hie und da ein Lacher. Ein bisschen vom Wahnsinn der Pedaleure strahlt herüber. Trotz allem: bewundernswert ist sie schon ein wenig, die Leistung dieser MasochistInnen. Der Nebel fliesst in Schwaden. Dann bricht die Sonne für einen kurzen Augenblick durch. Der Turm des Observatoriums taucht – einem Geist gleich – in majestätischer Grösse wie weichgezeichnet auf, um ebenso schnell wieder zu verschwinden! Eine unwirkliche Szenerie.
Das Ausharren auf dem Gipfel hat sich gelohnt. Die nördliche Aussichtsplattform bietet bereits einen Blick ins Tal der Toulourenc. Es ist beinahe wie im Kinderlied: man wird nicht satt vom Sehen.
Die Abfahrt nach Malaucène beträgt genau 21 km. Im Städtchen herrscht Mittagsstimmung. Es bleibt noch viel Zeit, die von Catherine empfohlene Gorge und die Lavendelfelder bei Sault zu besuchen. Das schöne Wetter hält an.
Die Schlucht befindet sich zwischen Bédoin und Sault. Die Strasse ist kuvenreich und in respektabler Höhe angelegt. Wildromantisch! Zum Grund der Schlucht sieht man nur selten, so zugewachsen ist sie mit Gebüsch und Bäumen, fast wie in einem Tropenwald.
Vor Sault befinden sich die ersten Lavendelfelder. Die Blüten sind noch nicht vollständig entwickelt, wie am Kreisel in Albertville! Aber in ihrer Grösse und Häufigkeit beeindrucken die Felder schon.
Sault gehört offensichtlich zu einem der Ausgangs- bzw. Endpunkte einer Fahrt zum Mt. Ventoux; so wie Bédoin oder Malaucène. Im Restaurant bestellen die Radfahrer Spaghetti, die Motorradfahrer Boeuf haché mit frites. Die Unterhaltung z.B. mit dem Kellner ist bezüglich seiner Aussprache ungewohnt. Der Nasallaut für z.B. die Endung -in (coin) wird hier mit -äng (coäng) gesprochen.
Ein Wort zu den Motorradfahrern: Sie grüssen ausgesprochen freudig und fleissig. Ausnahme: die Harleyfahrer; na, dann halt eben nicht …
Weiter geht die Fahrt im Tal von Sault nach Norden. In Aurel nach Westen, auf einer malerischen, gut zu befahrenden Strasse. Das bereits erwähnte Flüsschen Toulourenc hat hier für ein vorerst bereiteres Tal gesorgt bevor es sich nach etwa der Hälfte der Strecke in einer tiefen Schlucht verabschiedet. Der Pass des Vaux (weit und breit kein Kalb zu sehen) bildet gewissermassen das Finale dieser Route.
Unten in der Ebene liegt Vaison la Romaine. Wie es der Name vermuten lässt, ein Städtchen mit grosser römischer Vergangenheit. Der herrliche Sonnenschein, die Wärme und die vielen Bistros dieses überaus sympathischen, provenzalischen Ortes laden zum Verweilen ein.
Sehr viel Zeit dafür bleibt leider nicht. Es ziehen Wolken auf. Das nächste Ziel ist die Unterkunft in Mollans-sur-Ouvèze. Allerdings benötige ich zwei schweisstreibende Anläufe – mit freundlicher Hilfe aus dem benachbarten Resort – bis die Lokalität auf dem wildromantischen Hügel gefunden ist. Kaum bin ich im geräumigen Zimmer mit Terrasse – Blick auf den Berg der Berge – beginnt ein Gewitterregen sintflutartigen Ausmasses. An ein Abendessen im Dorf unten ist nicht zu denken. Die Hausherrin anerbietet sich, mich in die nächste Pizzeria zu chauffieren. Für einmal bleibe ich lieber hier und verbringe den Abend mit Reflektieren, Kartenstudium und einem Buch.